In der Türkei entsteht gerade ein neues Land. Es wird von Parias geschaffen, die in Wellblechhütten lebten und jetzt in die Hochhäuser gezogen sind. Die Ex-Parias und die Neureichen des Landes haben die Mehrheit. Sie fühlen sich demokratisch legitimiert, haben in eigenen Augen jedes Recht, allein und absolut zu herrschen, wenn sie auch nur eine Stimme mehr haben als ihre Gegner. Der Scherbenhaufen, den diese Brutalisierung hinterlässt, wird lange auf den Türken lasten, vor allem auf denen, die im Ausland leben. Sie wird die Türken auch in ihren womöglich berechtigten Einsprüchen mundtot machen. Aber nicht nur die Türken sind davon betroffen. Vor allem jene Länder in Europa wie Deutschland und Österreich, die eine besonders schwierige Vergangenheit mit komplexen Identitätsstrukturen und kultureller Vielfalt haben, werden anfällig für das Produzieren von Klischees. Erdoğan, das personifizierte Klischee des „üblen“ Türken, hält ihnen die Tür auf. Arrogant, ungebildet, stillos. Ein Bilderbuch-Muslim-Mann.
Von Zafer Senocak
Jede Art von Philosophie ist ihr Feind und somit auch das Recht. Sie haben weder Stil, noch haben sie einen Ruf zu verlieren. Man weiß nicht so recht, wie man diesen Neutürken begegnen soll, wenn man nicht bereit ist, sich auf ihr Niveau zu begeben.
Die Türkei meiner Kindheit war ein Land des Anstands. Etikette war ungemein wichtig. Die Kinder wurden mit Vorbildern erzogen, die immer korrekt eingekleidet waren und ein höfliches Hochtürkisch sprachen. Frauen und Männer trafen sich ungezwungen. Brüllen in der Öffentlichkeit war der Unterschicht vorbehalten – und das auch nur untereinander. Ganz undenkbar, dass ein Staatspräsident brüllend in ein Mikrofon sprach.
Hinter den Kulissen aber war die Türkei immer ein Land der rohen Sitten geblieben. Brutale Gewalt gegen die Armenier und die Kurden, gegen politisch Andersdenkende, gegen die alevitische Minderheit. Sie wurde auch von den feinen Türken geduldet und angeordnet. Der feine Zwirn macht eben noch keine Sitte aus.
In der alten türkischen Gesellschaft gab es einen gewissen Artenschutz für Gebildete und für Staatsdiener, wenn sie politisch nicht aneckten. Diese alte Türkei hatte selbst das Gefängnis zu einem Kulturort, zu einer Stätte der Hoffnung gemacht. Zahlreiche Romane und Gedichte zeugen davon. Heute sind die Gefängnisse des Landes nur noch Endstationen.
Früher bewegte sich das gemeine Volk zwar nicht in einem rechtsfreien Raum, wurde aber von der geschützten und geförderten Elite in jeder Hinsicht dominiert. Ausdruck fand dieses Dominieren in einer Du-Anrede, die jeden traf, der wegen eines dürftigen Einkommens und geringer Bildung dirigiert werden konnte und musste.
Heute herrscht das Du, es repräsentiert die Mehrheit. Es herrscht mit unübersehbarer Aggression über die feinen Türken. Die feinen Türken sind in den Augen der einfachen türkischen Bevölkerung die Stellvertreter des Westens. Die Aggression richtet sich selbstverständlich auch gegen diese Verbündeten der feinen Türken, also die Europäer. Ein großes historisches Missverständnis.
Groteske Historienspektakel
Denn die Türkei mag ja ein Nato-Staat sein oder Beitrittsgespräche mit der EU führen. Es ändert aber nichts daran, dass auch heute der Durchschnittseuropäer zahlreiche Vorbehalte gegen dieses Volk hat.
Die Zeit der feinen Türkenherrschaft hat man relativ untätig verstreichen lassen, ohne an diesem negativen Türkenbild wirklich etwas zu ändern. Nun scheint es zu spät zu sein, denn an der Macht ist die Türkei der Bauern, der Kulturbanausen mit rohen Sitten und verachtungswürdigem Gehabe.
Der Aufstand Anatoliens ist in vollem Gange. Es ist eine Bewegung der Zukurzgekommenen, denen die osmanische Vergangenheit, die nicht selten gerade unter ihren Vorfahren Massaker und Hungersnöte verursacht hat, als glorreiche Vergangenheit verkauft wird. Martialische Sprache und militaristisches Weltbild werden zu einem grotesken Historienspektakel mitten in der globalen Netzrevolution des 21. Jahrhunderts.
Die feinen Türken mit ihren Mischidentitäten, nicht wenige unter ihnen haben Vorfahren aus dem Balkan, mit ihrer modernen städtischen Kultur und ihren Fortschrittsidealen sollen wie Fremde, identitätslose Wesen aussehen, so wie einst der Kosmopolit der Feind alles Nationalen war.
Glauben ist Privatsache
Dabei könnten genau sie, ja, genau diese türkische Elite zwischen den islamischen Traditionen und dem Modernismus Kemal Atatürks vermitteln. Sie hätten ein Beispiel der hybriden Identität sein können, die bestens in unser 21. Jahrhundert passt.
Eine komplexe Form der Identität, an die wir uns gewöhnen müssen, wenn wir nicht immer neue Bürgerkriege basierend auf identitärem Wahn erleben wollen. In der Türkei gibt es eben auch diesen muslimischen Bürger, dem sein Glaube Privatsache ist und der in einer freien Gesellschaft leben möchte.
Und genau hier beginnt sowohl das türkische als auch das europäische Versagen. Viel zu viel Zeit verlor die türkische Elite mit der Pflege eines kruden Nationalismus. Unter dessen panzerfester Schale versteckte sie fast verschämt jene kulturelle Vielfalt, die ihr innewohnt.
Nirgendwo wurde wirklich sichtbar, dass der türkische Modernismus inspiriert worden ist sowohl von den persischen Gärten des Dichters Hafis, als auch von der privaten Hölle eines Charles Baudelaire. Die Türken gingen in Europa ein und aus, nicht nur als Krieger und Reiter, aber auch als Studenten, als Poeten, als Wissenschaftler und Künstler. In der Türkei keimte die Hoffnung einer grenzüberschreitenden Kultur, die Morgen- und Abendland versöhnt.
Und just jetzt, wo tausende von der EU mit Stipendien ausgestattete Erasmusstudenten begonnen hatten, türkische und europäische Universitäten durch ihre Aufenthalte zu bereichern und zu verbinden, gerade jetzt, wo es an der Zeit gewesen wäre, der türkischen Jugend durch freies Reisen das Kennenlernen gegenwärtiger europäischer Kultur zu ermöglichen, soll auf einmal all das vorbei sein. Wie dumm ist das denn? Welchem Zweck dient diese Politik? Welche Zukunft wird damit eröffnet?
Keine Frage, die feinen Türken fühlen sich von den Europäern im Stich gelassen. Der europäische Salon blieb ihnen versperrt, und draußen vor der Tür ist es inzwischen ungemütlich. Die brutalisierte Version der Türkei hat ihren Präsidenten gefunden.
Wer nicht dazu passt, gehört einfach nicht dazu. Er wird eingesperrt oder hinausgedrängt. Im günstigsten Fall verliert er nur den Job – nicht selten eine Existenzkrise in einem Land mit viel Stress auf dem Arbeitsmarkt.
Ein unvorstellbar rauer Stil, der weder zu einem gelehrten Islam noch zum Verhaltenskodex der säkularen Bildungseliten passt, bahnt sich seinen Weg, direkt von den Wahlurnen auf die Bühnen der nationalen und internationalen Politik.
Arrogant, ungebildet, stillos
Der Scherbenhaufen, den diese Brutalisierung hinterlässt, wird lange auf den Türken lasten, vor allem auf denen, die im Ausland leben. Sie wird die Türken auch in ihren womöglich berechtigten Einsprüchen mundtot machen.
Aber nicht nur die Türken sind davon betroffen. Vor allem jene Länder in Europa wie Deutschland und Österreich, die eine besonders schwierige Vergangenheit mit komplexen Identitätsstrukturen und kultureller Vielfalt haben, werden anfällig für das Produzieren von Klischees. Erdoğan, das personifizierte Klischee des „üblen“ Türken, hält ihnen die Tür auf. Arrogant, ungebildet, stillos. Ein Bilderbuch-Muslim-Mann.
So einfach hat es dem bornierten Mitteleuropäer bisher noch kein Nahostler gemacht, keiner, der eine bedeutende Position innehatte. Die Bilder und die Sprache, die der amtierende türkische Präsident geschaffen hat, werden über Jahre und Jahrzehnte das Klima vergiften, womöglich auch zwischen den feinen Türken und den demokratischen Europäern.
Deswegen ist die Verantwortung heute so groß, nicht die Klarsicht zu verlieren und der Türkei den Platz vor den Toren Europas zuzuweisen, wo sie nur eins werden kann: eine andauernde Gefahr für sich selbst und für Europa. (Erste Veröffentlichung WELT)