Efgani Dönmez, PMM, ist seit April 2008 Abgeordneter zum Bundesrat, entsendet vom oberösterreichischen Landtag.
Der gelernte Gas-Wasser-Heizungstechniker, Sozialarbeiter, Lektor und Mediator kam als Kleinkind aus der Türkei nach Oberösterreich. Wir haben Ihn zu Thilo Sarrazin in unserem Büro befragt.
Die Auswirkung der Sarrazin-Debatte, sowohl in Deutschland als auch in Österreich, sind genau jene, die sich zurzeit niemand wünscht. Am allerwenigsten die Politikerinnen und Politiker, die sich um eine verbesserte Integration bemühen. Der Ärger und Frust bei jenen Menschen, die Österreich oder Deutschland als ihre Heimat angenommen und mit ihrem Engagement für das jeweilige Land viel geleistet haben, ist wohl auch für Sarrazin selbst nachvollziehbar. Es gibt eine wachsende Schicht gebildeter und bestens integrierter Migrantinnen und Migranten, die vielleicht eines Tages keine Lust mehr haben, ständig wegen ihrer Abstammung angepöbelt zu werden und die das Land verlassen.
Einspruch: Was war bei Sarazzins Buch neu, Herr Dönmez?
Dönmez: Arigona Zogaj und Thilo Sarrazin wurden vom „Profil“ zu „Menschen des Jahres 2010“ auserkoren, nicht wegen der Inhalte, sondern bezüglich des immensen gesellschaftlichen Diskussionsprozesses, welche diese zwei Personen in Gang gesetzt haben. Thilo Sarrazin hat das erfolgreichste deutschsprachige, politische Buch dieses Jahrzehnts geschrieben. Sowohl der inhaltliche Diskurs als auch die offensive Bewerbung durch die deutsche Bild-Zeitung tragen zum durchschlagenden Erfolg bei. Die Reaktionen auf die Sarrazin-Thesen liegen weit auseinander: Was für die einen eine längst fällige Streitschrift zur Integration darstellt, ist für die anderen ein biologistisch motiviertes Plädoyer für Selektion. Der Autor kritisiert die Migrations- und Sozialpolitik der Bundesrepublik. Die Daten über die demographische Entwicklung oder die Schwächen des Bildungssystems sind interessant, aber neu oder gar erstaunlich sind sie keineswegs.
Einspruch: Gibt es Parallelen zwischen Deutschland und Österreich?
Dönmez: Zwischen Deutschland und Österreich bestehen viele Parallelen, vor allem auch im Umgang mit dem Thema Migration. Die Meinung Sarrazins ist in Deutschland nicht mehrheitsfähig, jedoch identifiziert sich damit eine starke und sehr laute Minderheit. Österreich verfügt über eine große Anzahl kleiner Sarrazins. Daher ist die Resonanz auf die Thesen des Deutschen erwartungsgemäß wohlwollend, vor allem aus dem rechtskonservativen Lager. Inwieweit der Umgang mit der Thematik, die auf Schuldzuweisungen beruht und Sündenbockpolitik in Reinkultur darstellt, eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft ermöglicht, bleiben sowohl der Autor selbst als auch seine VerfechterInnen und FürsprecherInnen schuldig.
Einspruch: Gibt es Zusammenhänge zwischen Arbeit und Religionszugehörigkeit in Österreich?
Dönmez: Zahlen, die einen Zusammenhang zwischen Arbeit und Religionszugehörigkeit aufzeigen, gibt es weder in Deutschland noch in Österreich. Muslime mit Migrationshintergrund kommen aus den unterschiedlichen Ländern deren Verhalten am Arbeitsmarkt stark voneinander abweichen. Eine Korrelation zwischen Religionszugehörigkeit und Beschäftigung ist daher nicht nachweisbar und wäre wenig aussagekräftig. Einwanderer aus dem Iran und Irak verfügen über eine höhere Bildung als Einwanderer aus anderen Ländern, zum Beispiel der Türkei, und haben daher auch ungleich bessere Aussichten am Arbeitsmarkt, sowohl in Deutschland als auch in Österreich.
Einen Unterschied im Beschäftigungsausmaß der Bevölkerung an der Religionszugehörigkeit festzumachen ist plump anti-muslimisch und Teil einer Sündenbockpolitik. Tatsächlich gibt es zahlreiche Gründe für die Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt. Viele der Migrantinnen und Migranten, egal welcher Religionszugehörigkeit, die als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Österreich geholt wurden, sind heute arbeitslos, weil es weniger Arbeitsplätze für schlecht qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gibt. Gleichzeitig werden im Ausland erworbene Qualifikationen in Österreich oft nicht anerkannt. Direkte Diskriminierung erfahren zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber, wenn sie einen ausländisch klingenden Namen haben, ganz egal ob sie längst die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.
Die Auswirkung der Sarrazin-Debatte, sowohl in Deutschland als auch in Österreich, sind genau jene, die sich zurzeit niemand wünscht. Am allerwenigsten die Politikerinnen und Politiker, die sich um eine verbesserte Integration bemühen. Der Ärger und Frust bei jenen Menschen, die Österreich oder Deutschland als ihre Heimat angenommen und mit ihrem Engagement für das jeweilige Land viel geleistet haben, ist wohl auch für Sarrazin selbst nachvollziehbar. Es gibt eine wachsende gebildetere und bestens integrierte Schicht von Migrantinnen und Migranten, die vielleicht eines Tages keine Lust mehr haben, ständig wegen ihrer Abstammung angepöbelt zu werden und die das Land verlassen.
Einspruch: Wie schaut es mit der Bildung in Deutschland und Österreich aus?
Dönmez: Muslime in Deutschland und Österreich haben unterdurchschnittliche Erfolge im Bildungswesen. Wie auch bei anderen Thematiken unterliegt Sarrazin einem fundamentalen Irrtum: Muslime in Deutschland – wie auch Muslime in Österreich – sind keine homogene Gruppe. Tatsächlich bestehen im deutschen wie auch im österreichischen Bildungswesen Defizite, die vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten benachteiligt. Tatsache ist, dass im Vorschulalter die Betreuungsquote von ausländischen etwas niedriger ausfällt als bei österreichischen Kindern. Die Reaktion darauf, nämlich ein verpflichtendes Kindergartenjahr einzuführen, war daher richtig.
Einspruch: Will Sarrazin in eine christliche oder moslemische Verantwortung auseinanderdividieren?
Dönmez: Als Finanzsenator müsste Sarrazin auch wissen, dass dem Ärmer-werden ein anderer Trend gegenüber steht, nämlich, dass gleichzeitig die Reichen reicher werden. Den Defiziten, die Sarrazin richtigerweise aufzeichnet, liegen soziale Probleme zugrunde. Ein Auseinanderdividieren in eine inländische und eine ausländische Verantwortung, oder in eine christliche oder moslemische Verantwortung, wird uns in der Problemlösung nicht weiter bringen. Die Bildungsfrage ist eine soziale Frage, der wir uns stellen müssen. In einem funktionierenden Bildungssystem muss für alle die Möglichkeit bestehen, sich zu qualifizieren. Im Augenblick sind die sozialen Barrieren für bildungsferne Schichten jedoch ungleich höher. Betrachtet man die Ergebnisse internationaler Vergleiche von Bildungsstandards, hat Sarrazin recht: Die Deutschen scheinen tatsächlich immer dümmer zu werden, und die ÖsterreicherInnen ebenso. Tatsache ist jedoch, dass unsere Kinder nicht dümmer werden – es ist das System, das dem Großteil der Kinder keine zeitgemäßen Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Die soziale Differenzierung setzt im österreichischen Schulsystem zu früh ein, was seit Jahrzehnten von allen Seiten kritisiert wird. Dies hat zur Folge, dass ein überproportionaler Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den dritten Leistungsgruppen der Hauptschulen bzw. in Sonderschulen sitzt, die schlechter ausgestattet sind als die Unterstufen der Gymnasien. Jeder Sektor des Bildungssystems muss auch einen sozialen Aufstieg ermöglichen. Das Fehlen konkreter Aufstiegsmöglichkeiten führt zu Konflikten. Gleichzeitig wandern gut gebildete Migranten und Migrantinnen wieder in ihre Herkunftsländer zurück, was in Österreich den Fachkräftemangel zusätzlich ansteigen lässt.
Einspruch: Konzentration der Oberflächlichkeit auf religiöse Symbole. Was bringt das?
Dönmez: Die Oberflächlichkeit der gegenwärtigen Integrationsdebatte manifestiert sich in Auseinandersetzungen über Kleidungsvorschriften und religiöser Symbolik. Jedoch steht das Handeln und nicht Aussehen und Herkunft im Zentrum einer nachhaltigen Integration. Vor allen Dingen sollten wir auf aufgeklärte und fortschrittliche Muslime zugehen und ihnen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Stoßen wir sie zurück – was Sarrazin mit seinen Verallgemeinerungen tut – nützt das den Fundamentalisten, deren Politik weder demokratiefreundlich ist, noch die Menschenrechte wahrt.
Einspruch: Ängste wahrnehmen, weniger die Thesen. Welche sollten wir ernst nehmen?
Dönmez: Sarrazin bietet mit seinen Thesen eine Projektionsfläche für Ängste und Befürchtungen in der Bevölkerung. Es ist die Angst vor sozialem Abstieg, die Angst vor persönlichem und wirtschaftlichem Misserfolg, die zur hohen Zustimmung geführt hat. Je niedriger der Bildungsstand der Menschen, desto höher sind diese Ängste. Es sind diese Ängste, die wir als Politiker ernst nehmen müssen – und weniger die Thesen Sarrazins.
Einspruch: Vielen Dank Herr Bundesrat Dönmez.