Von Michael Blume
Es ist bis ins kulturelle Allgemeinwissen vorgedrungen: Die islamische Welt war jahrhundertelang der europäischen Geisteswelt wissenschaftlich, kulturell und auch technologisch weit überlegen. Europäer staunten über die großen Städte, Krankenhäuser und Bibliotheken etwa in Baghdad und Cordoba. Muslimische Kaufleute, Gelehrte und Pilger trugen Güter und Wissen aus ganz Eurasien und Afrika zusammen. Jüdische, christliche sowie muslimische Gelehrte retteten unter dem Schirm der islamischen Gesetzgebung durch Übersetzungs- und Austauscharbeiten die Werke und Ideen antiker Denker und Forscher. Noch zu Zeiten der Kreuzzüge erwiesen sich die „Franken“ häufiger als grobe Barbaren, die auf eine schließlich auch militärisch überlegene, islamische Zivilisation trafen. Doch was ist dann im Verhältnis von Islam und Wissenschaft geschehen?
Nicht nur vielen Muslimen, sondern auch vielen Nichtmuslimen ist bis heute schleierhaft, woran die Expansion des Islam schließlich scheiterte. Wie konnte die islamische Welt aus diesen Höhen abstürzen, so dass heute alleine schon der Kleinstaat Israel mit 8 Millionen überwiegend jüdischen Einwohnern ein Mehrfaches an Patenten hervorbringt als die gesamte, über 300 Millionen Köpfe zählende, arabische Welt? Wie kann es sein, dass viele Muslime doch einerseits stolz verkünden, der Koran sei viel besser mit den modernen Naturwissenschaften vereinbar als die Bibel; um im nächsten Moment die Evolutionstheorie zurückzuweisen, ja gar zu verbieten?
1485: Wie der Islam in die geistige Krise stürzte
In meinem im August 2017 erschienenen Buch „Islam in der Krise“ (Patmos) habe ich eine These vorgestellt, die auch das derzeitige Verhältnis von Islam und Wissenschaft zu erklären vermag. Demnach haben wir es vor allem mit den Folgen einer nachvollziehbaren, aber im Ergebnis verhängnisvollen Fehlentscheidung des Jahres 1485 zu tun.
In diesem Jahr sprachen Kaufleute im erst 32 Jahre zuvor eroberten Konstantinopel, jetzt Istanbul, beim osmanischen Sultan vor. Bayazid II. (1447 – 1512) war wegen seiner islamischen Frömmigkeit gerühmt und hörte aufmerksam die Schrift- und Rechtsgelehrten, die Ulema, zu dem Antrag, eine erste Druckerpresse aus Europa aufbauen und betreiben zu dürfen. Die Gelehrten hatten gute Argumente dagegen: Es war ihr über Jahre hart erworbenes Privileg, die geheiligten, arabischen Schriftzeichen (auch für persische und osmanische Schriften) verantwortungsvoll zu Papier bringen zu dürfen. Ihr frommes und verantwortungsvolles Handwerk würde durch diese Maschine der Christen entwertet! Und mehr noch: Würde die Einführung der Druckerpresse nicht Tür und Tor für allerhand Schund und aufrührerische Texte öffnen? Warum sollte der Sultan die Grundfesten seines Reiches erschüttern, das sich doch erkennbar gegen die weniger wissenden und zerstrittenen Christen immer weiter durchsetzte?
Bayazid II. verbot also 1485 den Buchdruck arabischer Schriftzeichen im gesamten Osmanischen Reich, während in Europa ein gewisser Martin Luther (1483 – 1546) gerade den Windeln entwuchs. Des Sultans Sohn Selim (1470 – 1520) stürzte den Vater und legte sich als erster osmanischer Sultan auch den Kalifentitel zu; er erneuerte zugleich das Buchdruckverbot bei Todesstrafe.
Zur Fairness gehört anzuerkennen, dass sich der Rat der Ulema-Gelehrten zunächst als richtig zu erweisen schien: In Europa wurden keineswegs nur edle Bücher gedruckt, sondern Texte voller Schund, Lügen und Hass. So erschien ab 1486 der „Hexenhammer“ mit einem gefälschten, theologischen Gutachten; das Grundlagenwerk der Hexenverfolgung wurde einer der ersten Best- und Longseller des Buchdruckes! Auch Flugblätter, die politische oder religiöse Opponenten verunglimpften, gehörten zu den viel nachgefragten Produkte
Die Christenheit überholt mit (gedruckten) Büchern…
Nun also war es an Europa und dessen Überseekolonien, buch- und wissensgetrieben und damit auch technologisch, wirtschaftlich und militärisch voranzustürmen. Selbst aus den brutalen Reichs- und Konfessionskriegen wie dem 30jährigen Krieg Europas konnten die zwar stabileren, aber weitgehend stagnierenden Osmanen keinen Vorteil mehr ziehen. 1683 verloren sie die letzte Belagerungsschlacht vor Wien und begannen nach Jahrhunderten der Expansion in ebenso schleichende wie quälende Jahrhunderte des Niedergangs überzugehen.
Um 1800 konnten bereits die Hälfte der Briten und Deutschen lesen und schreiben, selbst in Portugal waren es 20% der Bevölkerung; im Osmanischen Reich weiterhin nicht einmal 5%. Während Goethe, Schiller und die Gebrüder Humboldt ins 19. Jahrhundert stürmten und in den sich ausbreitenden Zeitungen die ersten Leserbriefe erschienen, erlebten die Muslime die demütigenden Niederlagen ihrer Truppen auch bei der „ägyptischen Expedition“ durch Napoleon Bonaparte (1769 – 1821). Wütend-hilflos zerstörte ein ägyptischer Mob auch eine von den Franzosen mitgebrachte Druckerpresse, da diese doch von den weisen, islamischen Vorfahren einst verboten worden war…
Übernahme von Verschwörungsmythen aus der westlichen Welt – Vom Monotheismus zum Dualismus
Wenn aber die islamische Zivilisation doch einmal so überlegen gewesen war, dann war ein Wiederaufstieg wohl in der Rückkehr zu den „goldenen Zeiten“ zu suchen? Die auch militärische Überlegenheit, das Wissen und die Neugier der Europäer „mussten“ also auf den Pakt mit bösen Mächten, der eigene Niedergang auf eine Verschwörung zurückzuführen sein!
Bis heute hat in der islamischen Welt außerhalb kleiner Kreise kaum eine weitergehende, selbstkritische Debatte über die Gründe des eigenen Niedergangs stattgefunden. In den historischen Erinnerungen stehen idealisierte „ruhmreiche“ Zeiten und Eroberungen im Namen des Islams neben und vor den als Demütigungen erinnerten, „niederträchtigen“ Angriffen der Christen seit den Kreuzzügen. Bildungsreformer und wissenschaftsoffene Reformbewegungen standen – und stehen! – daher immer wieder in der Gefahr, als „Handlanger“ der bösen, verschwörerischen Westmächte wahrgenommen zu werden.
Wie tief die geistige Krise des Islams im 19. und 20. Jahrhunderts reichte, lässt sich dabei schon daran ersehen, dass sich kaum „islamische Verschwörungsmythen“ durchsetzten. Wir lesen nichts von superverschwörerischen Dschinnen und einem arabisch- und korankundigen Dr. Faisal / Faust. Stattdessen übernahm die langsam steigende Zahl der islamischen Schriftkundigen Verschwörungsmythen aus dem Westen: Von Teufeln, Juden und Jesuiten, von Freimaurern, später Illuminaten und Geheimdiensten, schließlich ab den 1930er Jahren auch die aus Russland stammenden, gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“. Und wie zuvor auch in Europa hatte der um sich greifende Verschwörungsglauben furchtbare Folgen für religiöse Minderheiten wie Juden, Christen, Yeziden, Bahai und Ahmadiyya in der islamischen Welt. Wer an die Allgegenwart verschwörerischer Bedrohungen glaubt, kann auch in Vielfalt und Minderheitenrechten nur noch Verschwörungen wahrnehmen – und wird zu Vertreibungen und Vernichtungen neigen.
Die Krise hatte damit – und hat bis heute – auch die islamische Theologie erreicht: Im Selbstanspruch verstehen sich die meisten Muslime, einschließlich der Gelehrten, als Monotheisten mit tiefem Vertrauen in den allbarmherzigen Schöpfer. Doch in der geistigen Realität sind sehr viele von ihnen längst eher zu Dualisten geworden: Während der gute Gott und die Schar der Rechtglaubenden bedrängt würden, werde die Welt von bösen, übermenschlich begabten Superverschwörungen beherrscht. Entsprechend verbindet sich die Sehnsucht nach westlichen Gütern und Technologien mit einem tiefen Misstrauen gegen alles Wissen aus der nichtislamischen Welt; einschließlich der Wissenschaften! Es entsteht eine „halbierte Moderne“, die die äußere Form imitiert, ohne die innere zu verstehe
Die verhängnisvolle Vertreibung religiöser Minderheiten
Ob beispielsweise die Bildungsbewegung um den türkisch-islamischen, seit langem in den USA residierenden Prediger Fethullah Gülen am Ende eine Öffnung oder doch nur eine weitere islamistische Umgestaltung des turksprachigen Islams erwirkt hätte, werden wir kaum mehr erfahren – denn nicht nur in der Türkei, in nahezu allen islamisch geprägten Staaten werden die „Gülenisten“ inzwischen als vermeintliche Superverschwörer verfolgt, verhaftet, ihre Schulen und Unternehmen geschlossen. Mit ihnen wie auch mit den Juden, den armenischen und aramäischen Christen, den Ahmadiyya und die sich zunehmend von der islamischen Assimilation lösenden Aleviten sowie der schnell wachsenden Zahl von allenfalls noch „kulturmuslimischen“ Säkularen stößt die islamische Welt derzeit ausgerechnet jene Minderheiten aus, die die Aufnahme westlichen Wissens zu fördern begannen. Im 15. Jahrhundert hatten muslimische Herrscher noch zu Recht über die „dummen Europäer“ gespottet, die mit den Juden engagierte und wissensorientierte Bürgerinnen und Bürger vertrieben; nun wiederholt die islamische Welt diesen Fehler im größeren Maßstab.
Das schwarze Gold – Der Fluch von Öl und Gas
Zu all diesem Unglück trat im 20. Jahrhundert schließlich noch ein letzter Faktor, der die Krise des Islams bis in unsere Tage hinein verschärft: Die Verbrennung von Öl und Gas.
Die Politikwissenschaft kennt bereits seit den 1970er Jahren den – zuerst von einem iranischen Forscher benannten – „Rentierstaat“, der sich nicht aus Steuergeldern finanziert, sondern aus dem Geldzustrom von außen. Was zunächst paradiesisch zu klingen scheint, erweist sich in der Realität als autoritärer Horror: Wo die Bürgerschaft keine Steuern entrichtet, entfällt ihr stärkstes Argument für politische Mitbestimmung. „No taxation without representation!“, forderten die amerikanischen Rebellen gegen die britische Krone und die französische Revolution entzündete sich am Versuch des Königs, an den Generalständen vorbei Steuern zu erhöhen. Wer aber von Anfang an keine Steuern zahlt, sondern von den Geldzuwendungen Dritter abhängig wird, entwickelt sich nicht zum selbstbewussten Bürger, sondern zum abhängigen Klienten. Und auch die Frau braucht keine höhere Bildung und keinen Arbeitsplatz, wenn der Ehegatte nur zum „richtigen“ Clan und Stamm, zur herrschenden Konfession, Partei und Clique gehört. So pflanzen sich Abhängigkeiten, Bildungsmängel und ein korruptes Verhältnis zum Staat über die Generationen hinweg fort. Öl-Rentierstaaten haben nicht nur Staaten wie Saudi-Arabien, den Iran, Irak und Libyen in die Ausweglosigkeit zwischen autoritären Regimen oder konkurrierenden Milizen geführt, sondern auch nichtislamische Staaten wie Russland, Venezuela oder Angola. Und dass die westliche Welt einerseits die „Menschenrechtsverletzungen“ beispielsweise des wahhabitischen Staatsislam in Saudi-Arabien beklagt, genau dieses Regime aber mit Waffen, Ausbildung und wo nötig auch westlichen Soldaten stabilisiert „muss“ gerade auch auf weniger Gebildete wie eine diabolische Verschwörung anmuten!
Fazit: Kein Anlass zur Arroganz
Für Muslime ist der ehrliche und umfassende Rückblick auf die eigene Geschichte schmerzhaft; zu schmerzhaft für die meisten. Verschwörungsglauben macht die Welt eher schlechter; doch entlastet er für den süßen Moment.
Nichtmuslimen und gerade auch Christen sollte der Rückblick auf die islamische Geschichte und die bis heute reichende, sich sogar verschärfende Krise des Islams wiederum kein Anlass zu Hochmut sein. Zum einen leben wir alle auf der gleichen Welt und die ölbefeuerten Kriege, Flüchtlingsströme wie auch Umweltzerstörungen betreffen die Menschheit insgesamt.
Und gerade auch das traumatische Schicksal des Osmanischen Reiches und der Absturz der islamischen Hochkulturen vermag uns daran zu erinnern, dass Geschichte kein linearer Fortschritt ist, sondern verhängnisvolle Fehlentscheidungen und Sackgassen auftreten können. Während es der islamischen Welt an Wissenschaften und Wissen mangelt, haben sich große Teile gerade auch der europäischen und amerikanischen Kirchen im Kindermangel eingerichtet – der mittelbar auch zu einem Bildungs- und Kulturabbruch führen kann.
Durch das seit dem Buchdruck gepflegte Miteinander von Bildung und Wohlstand sind evangelische Amtskirchen sogar besonders von Säkularisierungsprozessen einerseits und einem individualistischen Zerfall der Familien andererseits betroffen. Es ist schlicht und ergreifend arrogant, anzunehmen, dass die je eigenen Bildungs- und Wissenstraditionen weiterblühen werden, wenn sie nicht auch über kinderreiche Familien – wie beispielhaft früher die evangelischen Pfarrhäuser, oder auch die Mormonen, modern-orthodoxe, jüdische Familien u.a. – weiterleben. Es ist nicht auszuschließen, dass auch wir Christen derzeit „unser 1485“ veranstalten. Dass die Geburtenraten auch in den islamisch geprägten Gesellschaften einbrechen und beispielsweise auf dem Balkan, in der Türkei und im Iran ebenfalls bereits unter die Bestandserhaltungsgrenze gesunken sind, sei dabei erwähnt.
Zwar schreitet die Integration von Menschen muslimischer Herkunft in der westlichen Welt voran, nicht zuletzt über den Bildungsaufstieg. Während sich einige Muslime in Europa radikalisieren, entscheiden sich doch auch die meisten Verschwörungsgläubigen im Zweifel doch lieber für das Leben in christlich geprägten, sozialen Marktwirtschaften. Auch einige islamisch geprägte Gesellschaften wie Indonesien, Tunesien und Pakistan profitieren vom Fehlen großer Öl- und Gasreserven durch das Aufkommen modernisierender und zunehmend steuerzahlender Bürgerschaften. Doch zeigt sich gerade auch am Beispiel der in den Osmanismus zurückfallenden Türkei die ständige Gefahr von Verschwörungsglauben, der zu einer „halbierten Moderne“ führen kann – verkörpert nicht nur durch YouTube-nutzende Salafisten, sondern auch durch türkischstämmige Erdoganisten oder russischstämmige Putinisten. Eine islamische (oder auch christlich-fundamentalistische) Theologie, die Wissenschaften und damit auch höhere Bildung als gefährlich, ja verschwörerisch betrachtet, kann Menschen nicht zu einer individuell und gesellschaftlich gelingenden Identität im 21. Jahrhundert führen. Die Frage, ob und wie sich Religion(en), Familien und Wissenschaft(en) im Dialog entwickeln, ist also keine Randfrage für verträumte Spezialisten, sondern „die“ zentrale Zukunftsfrage der Menschheit in den kommenden Jahrzehnten.
Dr. Michael Blume
Veröffentlicht im Oktober 2017
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